Flawing the Edges Black Pages Banner
Alex "Sal" Luerken <s.a.l.@gmx.net> https://members.tripod.com/~Barogue)posted 29.05.98

Jaja, es ist mal wieder soweit etwas über die mangelnde Verständlichkeit und die horrenden Interpretationsmöglichkeiten der SR-Regeln herzuziehen. Es gibt nun einmal in jedem erdenklichen Regelbereich von Shadowrun ungefähr 2 Millionen Möglichkeiten, die Regel auszulegen. Von Positiv für jeden SL und dementsprechend negativ für jeden Spieler bis zum genauen Gegenteil. Doch ich will mich nicht beschweren. Hinter dem, was FASA und FANPRO in kleinen Stücken jedem Runner vor die Füße werfen, steckt immer auch eine Menge positives und durchaus realisierbares.

Viel schlimmer ist es aber, wenn man als SL erst nach Wochen, Monaten oder gar Jahren die Augen geöffnet bekommt, und plötzlich zu der Einsicht gelangt, das mit den bestehenden Regeln mal wieder gehöriger Unsinn verzapft wurde oder verzapft werden kann. Dem Englischbegabten wird sich vielleicht schon der Gedanke gekommen sein, daß es sich heute um das Schwanken meiner Meinung und Auffassung von Gaben und Handicaps handeln wird. Den Edgen und Flaws (für den nicht Englischbegabten: Gaben und Handicaps).

Angeregt wurden die nachdenklichen Stunden von einer Email, die vor kurzem in meinem elektronischem Briefkasten auf eine Antwort wartete. Der Schreiber war und ist vielleicht bis zum Ende dieses Artikels der Meinung, daß es sich doch bei den Gaben "Bauchreden" und "Lippenlesen" (Gaben und Handicaps #8) nicht um Gaben, sondern um Fertigkeiten handelt.

Ich kann nicht besonders gut bauchreden, um nicht zu sagen gar nicht, aber soweit mein Verständnis reicht kann man Bauchreden oder man kann Nicht-Bauchreden, genauso wie Leute ihre Zunge rollen oder nicht rollen können (ich kann es nicht). Nun ja, man kann es vielleicht lernen, sollte es nicht im genetischen Code verankert sein, ob man zur einen oder anderen Kategorie gehört. Was man auf jeden Fall lernen kann, ist von den Lippen abzulesen, insofern hatte der Schreiber in gewisser Weise recht mit seiner Behauptung, daß Lippenlesen eher ein Fertigkeit ist.

Fertigkeiten waren und sind nach meinem Verständnis Handlungen, die erlernt werden können, so wie man lernt mit einer Waffe zu schießen oder eine Sprache mit der Zeit zu beherrschen. Und schon paßt Lippenlesen wunderbar in diese Kategorie hinein.

Jedoch wenn ich mir das Kompendium zur Hand nehme und ein wenig durch die Gaben und Handicaps in diesem durchaus vortrefflichem Buch ansehe, finde ich dort ebenfalls einige Gaben bzw. Handicaps, die meines Erachtens auf jeden Fall erlernt werden können oder mit einem Lernprozeß verbunden sind, aber trotzdem nicht als Fertigkeit definiert werden können.

Zum Beispiel kann man einen Abschluß am College, an der Highschool oder an einer technischen Schule nur durch das Aufbringen von Zeit und der Bewältigung eines Lernprozesses erhalten. Genauso kann man seine Schmerztoleranz durch Training erhöhen, man nehme sich nur einen Fakir aus Indien, der sich mal kurz die Zungensoitze abschneidet und später wieder anklebt. Der gute Mann wird den trick nicht von Kindesbeinen an auf der Kante gehabt haben.

Doch noch mehr Fertigkeiten in das Fertigkeitenschema einzufügen halte ich für eher unsinnig, da die beinhalteten Fertigkeiten, die meisten Bereiche abdecken können, zu Not kann man eben auf Intelligenz ausweichen, wenn man nicht von den Lippen eines anderen ablesen kann, was derjenige sich gerade von der Seele reden möchte.

Mein größtes Problem mit der Frage, ob Fertigkeit oder Gabe, ist vielmehr, daß ich keinem Charakter für eine Fertigkeit, die eher nebensächlich ist und vom Gefühl her für mich in die Richtung Gabe geht, Mengen on Karma oder Aufbaupunkten abverlangen möchte oder würde. Jemandem 12 Karmapunkte abzuknöpfen nur, weil er seine Fertigkeit Lippenlesen von 5 auf 6 steigern will, liegt nicht in meinem Verständnis von sinnvoller Anwendung von rollenspielerischen Aspekten oder von Karma.

Gaben und Handicaps sollten nicht nur eine gute Möglichkeit sein, um ein paar Aufbaupunkte mehr für Ressourcen, Fertigkeiten oder Attributen zur Verfügung zu haben, sondern um den Charakter abzurunden, ihn von anderen Charakteren abzuheben. Jemand der für seinen Charakter eine schwere gewöhnliche Phobie nimmt, nur weil sie ihm 5 weitere Aufbaupunkte einbringt, gehört meiner Meinung nach der Linie eines Punkteschinders an, als der eines Rollenspielers. Die schwere Phobie sollte aus einem einschneidenden Erlebnis herrühren, einer Begebenheit, die den Charakter dazu gebracht hat, sich vor dem Auslöser seiner Phobie zu fürchten.

Gaben und Handicaps ermöglichen ebenso einem Spieler für die Nachteile, die er seinem Charakter bei der Erschaffung auferlegt, ein paar positive Eigenschaften und Besonderheiten zu verpassen. Wie im richtigen Leben, jeder hat seine eben seine Vorzüge, seine Stärken, genau wie Schwächen und kleine Spleens, die ihn zu einer kompletten Persönlichkeit machen.